„Wie weit Sprache eigentlich reichen kann“ | Erich Wimmer

Erich Wimmer (56) gewann mit seinem Text „Wahnwitz im Monsun“ beim Kurzgeschichten-Wettbewerb „WortReich“ den ersten Preis. Ich sprach mit ihm über seine Schreibarbeit. Der Autor gibt jungen Menschen einen wichtigen Ratschlag.

Von Sebastian Grayer, August 2022

Ich erreichte den 56-jährigen Autor Erich Wimmer im rund 300 Kilometer entfernten Mühlviertel in Oberösterreich. „Lassen Sie es ein paar Mal klingeln, dann hebe ich ab“, teilt Wimmer bereits Wochen vorher mit. Der Grund: Er besitzt kein Smartphone, sondern lediglich ein Telefon mit Festnetzanschluss. „Ein Smartphone dirigiert uns nur zur Oberfläche und zerstört unsere Seele“, begründet der Oberösterreicher seinen Verzicht auf ein Handy. Aber er gesteht ein, sich in naher Zukunft ein Handy zulegen zu müssen. Ein bitterer Moment für ihn, wie er im Gespräch mit mir verrät: „Man hat in diesem System keine andere Wahl.“

(c) Judith Wimmer
(c) Judith Wimmer

„In mir schlummert ein Maler“

Der Ursprung seiner schöpferischen Kreativität liegt in seiner Kindheit, hier besonders in der Beziehung zu seinem Vater, der für ihn einen großen Schatten bedeutete. „Mein Vater war Maler und sehr dominant mir gegenüber. Mit der Zeit entstand zwischen uns ein Konkurrenzverhältnis und er begann, meine gemalten Bilder zu verstecken“, erinnert sich Wimmer zurück. Diese Beziehung gipfelte in einem Ausweichen ins literarische Schreiben, das ihm seit Beginn durchgehend positive Kritiken einbrachte. „Erste literarische Versuche gelangen mir bereits in jungen Jahren, und die wurden früh positiv aufgenommen“, sagt Wimmer, der seit dem Jahr 1990 Violine an oberösterreichischen Landesmusikschulen lehrt. Hin und wieder wird Wimmer etwas wehmütig, wenn er an seine potenzielle Malerkarriere denkt und an die von ihn wohlmöglich geschaffenen Werke. „In mir schlummert noch immer ein Maler“, lacht der Gewinner des 12. Kurzgeschichten-Wettbewerbs „WortReich“ am Faaker See.

Seine Motive

Im Jahr 1996 begann Wimmer mit 30 Jahren ernsthaft zu schreiben, jedoch ist er nach so langer Zeit im Literaturbetrieb noch immer nicht literarisch angekommen. Für ihn ist das Schreiben ein fortlaufender Prozess. Doch seine beiden Motive nahmen über die Jahre hinweg immer mehr Form an. „Weil Menschen immer weniger lachen, verfolgt mein Schreiben eine Ironie, um andere auf einem hohen Niveau zu unterhalten“, erklärt er. Gleich stark sind auch die sprachliche, literarische Darstellung von Beziehungen in seinen Texten und die intensive Suche nach gelingenden Berührungen.
Selbst beschreibt sich Wimmer als einen aufmerksamen Menschen. Er ist daher auch im Alltag für berührende, irritierende und bizarre Momente empfänglich. Das ist seine Quelle für Ideen und Inspirationen. „Inspiration kommt mit der Arbeit“, ist der Autor überzeugt. Eine große Befriedigung für ihn ist das Gelingen von Berührungen durch den Akt des Schreibens. „Es ist für mich dann wie das Stehen auf einer Bühne vor Menschen“, erklärt Wimmer, der immer versucht, Altruismus und Egoismus in Gleichgewicht zu halten und diese Ambivalenz literarisch auszuleben.

Schreiben ermüdet wie Erdarbeit

„Ein Raum mit Büchern stellt für mich eine große Kraftquelle dar und gibt mir viel Mut und Kraft für das Schreiben, das ja eine anstrengende Arbeit ist“, sagt Wimmer, der von sprachlich verdichteten Geschichten fasziniert ist. Es kommt auch vor, dass der gebürtige Linzer lesende Menschen in seiner Umgebung anspricht und ihnen zum Lesen eines Buchs gratuliert. „Lesende Menschen sind die letzten Dinosaurier in dieser Welt. Die Leute sind dann sehr verwundert, aber wir kommen immer in tolle Gespräche“, schmunzelt Wimmer.
Anstrengend und schmerzhaft ist auch das Urteil seiner schärfsten Kritikerin. „Meine Frau Judith liest meine Texte zuerst und gibt jede Menge Rückmeldung. Als eine gnadenlose Kritikerin und Lektorin ist ihre Kritik für mich auch manchmal schmerzhaft. Aber ich weiß, dass durch ihr genaues Lesen meine Texte besser werden“, erzählt der Mühlviertler. Aus diesem Grund teilte Wimmer auch das Preisgeld in Höhe von tausend Euro mit seiner Frau.

Zwei Jahre, 30 Kurzgeschichten

In den vergangenen Jahren entdeckte Wimmer die kurze Form für sich. Rund 30 Kurzgeschichten sind in den vergangenen beiden Jahren entstanden. „Ein Projekt, das ich unbedingt abschließen möchte, ist ein Erzählband mit den Kurzgeschichten. Dafür muss ich noch einen Verlag finden“, blickt Wimmer voraus. Es wäre sein zehntes Buch. Eine Kurzgeschichte verlangt, dass man sich jeden Satz genauestens ansieht und auch mal den Text beiseitelegt, um eine Distanz herzustellen. „Das Grundgerüst steht gleich einmal, aber die Ausarbeitung dauert doch Wochen bis Monate“, gibt der Autor einen Einblick in seine Arbeit.
Einen speziellen Schreibort, wo seine Texte entstehen, hat Wimmer nicht. Vielmehr kann er überall schreiben. Vieles schreibt Wimmer mit der Hand. Erst danach überträgt er seine Zeilen in digitale Form. Dabei ist auch das „Reisen ohne Ziel“ mit seiner Frau wichtig. „2003/04 unternahm ich mit meiner Frau eine Weltreise, wir waren in Neuseeland und Kanada“, erinnert sich Wimmer. Auf dieser Reise hielt er seine Gedanken in einem Tagebuch fest. Es entstanden 2.000 Seiten, die noch abgearbeitet werden müssen.

Schafft selbstgewählte Lebenszeit!

Der Mühlviertler hat einen selbstgewählten Schreiballtag für sich gefunden, der um 6 Uhr beginnt. „Meine Zeit zum Schreiben finde ich am frühen Morgen. Dann schreibe ich so um die fünf bis sechs Stunden täglich. Zur Mittagszeit bin ich dann fertig“, berichtet Wimmer. Nach seiner Schreibarbeit führt ihn der Weg weiter in die Musikschulen, wo er Violine unterrichtet. „Ich sehe meine Schüler in der Musikschule als meine Kinder an, weil ich selbst keine habe. So kann ich ihnen auch Literatur und Ratschläge fürs Leben näherbringen“, erzählt der 56-Jährige. Einen Job zu finden, der einen jungen Menschen nicht „auffrisst“, und selbstgewählte Lebenszeit zu schaffen, sind seine wichtigsten Anregungen, die er im Gespräch mit mir weitergeben möchte. Auch das Lesen und Schreiben legt er jungen Menschen ans Herz, um so eine Größe und Tiefe zu erleben. So ist es auch möglich, aus einem eigenen Tun heraus Mut und Kraft zu schöpfen.

Von Kärnten begeistert

Aus Kärnten nimmt Wimmer die Herzlichkeit und das Engagement der Jury für die Literatur mit. „Ich bin beeindruckt, welchen Stellenwert Kultur in Kärnten hat und ebenso davon, wie das Menschsein in Kärnten gepflegt wird“, freut sich der Oberösterreicher. Kärnten lernte er bereits in seiner Kindheit kennen. „Ich habe als Kind Zeit mit meinen Eltern in Kärnten und mit meinem Vater beim Fliegenfischen verbracht. Leider war das Fischen heuer nicht möglich“, schildert der Autor. Nach der Ankunft im Mühlviertel erzählte er zuerst seiner Frau Judith vom Sieg beim Wettbewerb. „Vor der Abreise wollte ich noch ein paar Tage in Kärnten campen, aber ich war einfach zu aufgeregt und konnte nicht schlafen. Deswegen trat ich gleich die Heimreise an“, schmunzelt Wimmer.

Smartphone als das neue Auto

Lange Gedanken werden durch ein Smartphone in viele kleine Einzelteile zerlegt, wie Wimmer erklärt. „Das Smartphone ist das neue Auto. Das Auto hat uns viele Vorteile geschaffen, aber auch mindestens so viele Nachteile. Handys zerstören unsere Seele“, gibt Wimmer ernst zu verstehen. Etwa dass Menschen nicht einander ansehen, sondern nur mehr ins Handy blicken. Wohlmöglich auch deswegen nehmen echte Beziehungen zu Menschen und Berührungen in Wimmers Texten eine zentrale Rolle ein. Auch sein literarisches Anliegen spiegelt sich in seinem Lieblingszitat des Philosophen Jean-Luc Nancy wider. „Wir sind der Sinn – wenn Menschen aufeinandertreffen und Sinn produzieren. Wo Menschen sich wirklich begegnen“, ist der Autor überzeugt.

Von Dostojewskij bis Cowper Powys

Einer von Wimmers Lieblingsautoren ist Fjodor M. Dostojewskij, mit dem er sich zeitlebens beschäftigt. „Ich bin fasziniert von seiner sprachlichen Ausformung von Radikalität und der Bereitstellung eines tiefen Spiegels“, sagt der Mühlviertler. Auch Hans Henny Jahnn reiht sich zu den Lieblingsautoren ein. „Weil er Mut zur Wahrnehmung offenbart und zeigt, wie weit Sprache reichen kann“, begründet Wimmer seine Wahl. Ein weiterer Autor ist John Cowper Powys, den Wimmer aufgrund seiner Naturmetaphorik schätzt und ihn sogar vor Adalbert Stifter einordnet. Für Wimmer macht einen guten Text das Zusammenspiel von Form und Inhalt aus. „Solange ein Text es schafft, Menschen gelingend zu berühren, ist er aus meiner Sicht gut gearbeitet“, offenbart er seinen persönlichen Maßstab.

Online: „Wahnwitz im Monsun“ von Erich Wimmer.