"Man muss sich erst im Klaren sein, was Literatur schafft" | Sebastian Grayer

Ich wurde im Frühjahr von Walter Pobaschnig zu einem Interview eingeladen. Darin erläutere ich unter anderem mein Verständnis von Kultur, Kunst und Literatur. Auch versuche ich mit meiner persönlichen Perspektive zu erklären, was zurzeit für uns alle am wichtigsten ist.

Von Walter Pobaschnig, Mai 2023

"Ich möchte mich für das Interview bei Walter Pobaschnig herzlich bedanken, der mit seinem Blog "Literatur outdoors - Worte sind Wege" einen wunderbaren Ort für Autoren, Künstler und Kulturschaffende in den letzten Jahren erschaffen hat. Liebe Grüße aus Graz nach Wien, lieber Walter Pobaschnig!" - Sebastian Grayer

(c) Daria Rutrecht
(c) Daria Rutrecht

"Lieber Sebastian, wie sieht jetzt dein Tagesablauf aus?"

Im Moment sind die Tage sehr strukturiert und organisiert, und auch ein wenig statisch geworden. Der Tagesablauf richtet sich nämlich nach meinem Terminkalender, der voll ist mit Universität, meinen Studien der Germanistik und Soziologie sowie meiner Arbeit im Journalismus. Dennoch bin ich dadurch nicht gelähmt und suche beständig nach Freiräumen oder verhindere zumindest, dass sich die Durchstrukturierung und Kolonisierung vollends durchsetzt. Das gelingt mir nicht immer gleich gut, aber ich versuche es. Ich wache also täglich mit dem Klingeln des Weckers um 4.30 Uhr auf und starte ausgeschlafen in den Tag. Die ersten Schritte zum Fenster zu gehen, dieses zu öffnen und dann in Stille die Stille der beginnenden Morgenstunden zu lauschen – ich liebe das, ich kann die Ruhe richtig genießen! Der Tag setzt sich mit dem Weg unter die Dusche fort, wo meistens das große Nachdenken über die vor mir liegenden Stunden beginnt. Dann setze ich mich an den Schreibtisch, beantworte einige Mails und werfe einen Blick in Facebook und Instagram. Nach dem Zähneputzen geht es in Richtung Universität, dort trinke ich in der Regel auch meinen ersten Kaffee, oder aber auch in einem Grazer Kaffeehaus bei einer Zeitung. Vorlesungen, Kurse, intensives Studieren, kurze Pausen und das Schreiben von wissenschaftlichen Arbeiten reihen sich schließlich dicht aneinander. Dazwischen gliedert sich selbstverständlich noch die Suche nach interessanten Themen, Geschehnissen und insbesondere wunderbaren Menschen für potenzielle Artikel und die Vorbereitung auf die Arbeit am Wochenende ein. Die Abende verlaufen dann ähnlich: Ich schlafe irgendwann mal bei laufendem Radio ein. Mir kommen die Tage sehr kurz vor, wobei jeder einzelne davon mich wirklich erfüllt.

"Was ist jetzt für uns alles besonders wichtig?"

Mir schwebt das Zurückkommen zu einem Mensch-Sein in einer reinen Form vor, das seine Gehässig- und Rücksichtlosigkeit sowie Brutalität und sämtliche Stumpfsinnigkeiten abgestreift und es gegen Offenheit und ein aufmerksames, wahrhaftiges Miteinander getauscht hat. Darauf kommt es zurzeit wohl am meisten an. Und Kultur, ich meine Literatur, Kunst und Musik, macht dieses Mensch-Sein auf ganz besondere Weise erfahr-, spür und erlebbar. So glaube ich, dass uns ein Aussparen auf Kultur guttun und zur Entschleunigung beitragen würde und bei der Überführung von Uneindeutigkeiten zu Eindeutigkeiten enorm hilfreich sein könnte. Kultur bringt unmissverständlich auf den Punkt und bringt Tiefergehendes zum Ausdruck.

(c) Daria Rutrecht
(c) Daria Rutrecht

"Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?"

Es wird darauf ankommen, weiterhin der Literatur und Kunst ihren Raum zu geben, wie groß dieser dann auch tatsächlich gestaltet sein mag. Und diesen Anspruch auf einen Raum unmittelbar in der Gesellschaft gilt es auch mit einer konsequenten und leidenschaftlichen Vehemenz wie Standhaftigkeit einzufordern. Der unerschütterlichen Literatur kommt die Rolle einer wichtigen Entgegensetzung zu, sie bringt sich selbstsicher gegen das Artikulationsdefizit der Alltagssprache in vielversprechende Stellung und macht das Leben mit ihrem Volumen aus Klangsättigkeit und forcierten Momenten erträglicher. Man muss sich erst im Klaren sein, was Literatur in ihrer Beständigkeit und aus einem umfassenden Möglichkeitsraum, wie aus dem Nichts schöpfend, schafft. Jeder literarische Text ist ein sprachliches und robustes Gemälde, das in mühsamer Arbeit, ermüdender Selbstpraxis und intensiver Auseinandersetzung mit der äußeren, sozialen Welt entstanden und geformt wurde. Mit der sprachlichen Formung innerhalb einer Selbstpraxis von Autoren entsteht das inhaltliche Innenleben, das sich in einer feinen Sprachgewalt gegenüber dem Leser offenbart und gleichzeitig immanent in Erscheinung tritt. Und es ist jedenfalls gerade diese feine und für Literatur typische Sprache, die literarisch-klangliche, die doch den Sinn des Lebens für uns innerhalb der Literatur anzusammeln imstande ist. Die Literatur bricht das Alltägliche auf und modelliert mithilfe ihrer besonderen Sprachfertigkeit den Lebenssinn heraus. Sprache steht nicht im Weg eines Textes, wie viele meinen möchten, und erschöpft sich auch nicht selbstzweckmäßig, wie viele überzeugt sind. Alles geht von einer sprachlichen und begreifenden wie ergreifenden Konzentration aus, die sich an einzelnen Sätzen der Reihe nach manifestiert, zusammen eine ganze Manifestation bildet und seine einzelnen Mikrobausteine gerade erst für einen literarischen Text liefert, um von sinnlichen Bildern begleitend wirklich berührende Momente hervorzubringen, in denen die Leser selbstständig mit dem Gelesenen in ihren außerliterarischen Welten notwendigerweise auseinandersetzend und mehrwertschöpfend innehalten und die sich bietenden Reflexionen weiter vorantreiben müssen. Und es ist die Selbstpraxis der Autoren und Künstler, die mich in meiner Ansicht stärkt, dass diese die besseren Soziologen sind. Menschen, die hinter Kunst und Literatur stehen, bohren auf feine Weise in sozialen Tiefen hinein; dann ist es nur folgerichtig, dass der Artikulation in Literatur und Kunst eine versprachlichte Gegenwart zukommt, wo nichts bloß aneinandergereiht zu sein scheint, sondern vielmehr aus sanften wie akribisch zusammengesetzten Kompositionen besteht, die für uns äußerst bewegungsstiftend sind und uns weiterbringen, nach vorne. Eine sinnliche Sprachgewalt also, die paradoxerweise ineinandergreifende Komplexitäten erst erschafft. Am Ende ertränkt Literatur das fortschreitende Abstumpfen, und es sind Kunst und Literatur – man kann es nicht oft genug sagen – die, im Gegensatz zum derzeitigen Weltschmerz stehend, die dringenden Resonanzen für die Menschen anbieten und durch ihre Lektüre und Betrachtung auf seltsame Weise eine Einsamkeit möglich machen, an deren Ende eine Schärfung der eigentlichen Wahrnehmung steht. Und so eröffnen sich wiederum neue Resonanzen von unglaublicher Schwere und Tiefe, die uns aufmerksam und empfänglich machen. So wären die Rollen der Literatur und Kunst unter uns zu sehen, die beide Gesellschaft notwendigerweise zerdehnen.

"Was liest du derzeit?"

Derzeit lese ich einerseits zum dritten Mal das Buch „Auslöschung. Ein Zerfall“ von Thomas Bernhard und andererseits „Herzzeit. Ingeborg Bachmann, Paul Celan. Der Briefwechsel“ sowie Peter Handkes „Nachmittag eines Schriftstellers“. Dazwischen auch vereinzelt Lyrik von Rainer Maria Rilke und Ingeborg Bachmann.

(c) Daria Rutrecht
(c) Daria Rutrecht

"Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest du uns mitgeben?"

Im Buch „Einübung ins Schweben“ von Dževad Karahasan habe ich folgende, mich sehr berührende Textstelle unterstrichen: „Vielleicht wäre es am treffendsten zu sagen, dass uns eine tiefe Freundschaft verband, die auch eine starke Anziehung einschloss, so dass unsere Beziehung, eigentlich die Nähe, die nicht durch regelmäßige oder häufige Begegnungen bestätigt wird, lange dauerte, auch nachdem wir begriffen hatten, dass sie nicht mein Mädchen und ich nicht ihr Kerl war.“ Persönlich halte ich mich am folgenden Zitat von Ingeborg Bachmann fest: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“