"Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf" | Tanja Maljartschuk

Die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk hielt heuer die Rede zur Literatur. Damit eröffnete sie nicht nur die Tage der deutschsprachigen Literatur, sondern hob mit ihren Worten auch auf die Frage ab, welche Rolle die Literatur in Zeiten des Krieges noch spielen kann.

Von Sebastian Grayer, Juni 2023

Es war eine sehr erschütternde und eine dem Atem raubende Rede zur Literatur, mit der die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk die diesjährigen Tage der deutschsprachigen Literatur (TddL) am 28. Juni 2023 im Theater des ORF-Funkhauses in Klagenfurt am Wörthersee eröffnete. Maljartschuk zeichnete in ihrer Rede mit dem Titel "Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf" jenes Bild von Literatur, das einem sonst so nirgendwo oder zumindest nur sehr selten begegnet: "Wie oft war die Literatur unfähig, die Dinge so zu benennen, wie sie sind". Sie hinterfragt damit die Rolle von Literatur in Zeiten des aktuell herrschenden Krieges in der Ukraine. Die Zeilen von Maljartschuk schlagen mit großer Wucht ein, sie sind beeindruckend zwingend und ergreifend, sie bleiben eindrucksvoll in Erinnerung und bewirken ein noch länger andauerndes Echo, das steht eindeutig fest.

(c) Sebastian Grayer
(c) Sebastian Grayer

Werden beide Flächen, die der Literatur und jene des Alltags der Menschen, übereinandergelegt, so ergeben sie eine große dritte Fläche, und das ist die Sprache. Bewegen in beiden Räumen bedeutet eine Bedienung aus einer gemeinsamen Quelle: In beiden steht das gleiche Sprachmaterial zur Verfügung, um Ausdruck und Formen für Gedanken, Wahrgenommenes und Empfundenes zu finden. Diese Richtung ist insofern von Bedeutung, als Tanja Maljartschuk bereits zu Beginn ihrer Rede erklärte, dass sie als Autorin das Vertrauen in die Literatur und insbesondere das Vertrauen in die Sprache verloren habe. Während Schriftsteller:innen - in welcher Form auch immer - das Instrument der Sprache für die Erschaffung von poetischen, literarisch-eigengesetzlichen Texten verwenden, könne die selbe Sprache jedoch auch im Kundtun von Befehlen im Krieg unmittelbare Anwendung finden, und gerade dafür wird sie im Angriffskrieg gegen die Ukraine ja auch benutzt: Die Sprache findet in jener Form ihren Ausdruck, die "Millionen von mehrheitlich friedlichen Bürgern überzeugen kann, im Recht zu sein, andere zu ermorden". Das ist ein gewaltiger Widerspruch, der nicht nur ein Gefühl von Unbehagen auslöst, sondern auch für große Verzweiflung bei vielen Menschen sorgt.

Die in Iwano-Frankiwsk geborene Autorin arbeitet sich an der vergleichenden Linie entlang, an deren Ende die Literatur als eine Blüte an einem Ast eines Baumes dargestellt wird. Die Blüte ist für die Fortpflanzung von Ideen in der Welt verantwortlich. Doch zieht ein Unwetter über die Natur her, so wird der Baum stark in Mitleidenschaft gezogen und die Blüte fällt ungeschützt und zerstört ab. "Ein blühender Baum ist machtlos und hilflos der Gewalt gegenüber, die Menschen einander antun. So wie die Literatur bleibt ein Baum nur ein stummer Zeuge [...]". Somit ist Literatur aus ihrer Sicht verwundbar und ist nicht immer imstande, sich zu wehren und bleibt hingegen nur stumm. Können literarische Texte dann überhaupt unverfälscht zur Sprache bringen, was zur Sprache gebracht werden muss, was eine alltägliche Sprache ja nicht zur Sprache bringen kann und wenn die gleiche Sprache doch auch für den Krieg verwendet wird, ist eine solche Sprache dann überhaupt für das Artikulieren von Eigentlichkeiten verwendbar? Haftet der Literatur etwa eine Unfähigkeit des Zur-Sprache-Bringens an? 

Tanja Maljartschuk sieht, dass ebenfalls die Sprache in der Literatur einen faulen Charakter haben könne. Sie verschönere beispielsweise Gewalt zu Liebe, Mord zu Rettung und Arroganz zu Würde. "Wie oft [hat die Sprache] die Umbringer, die Auslöscher und die Gauner sämtlicher Sorten verherrlicht und verharmlost." Die Literatur besitze das Unvermögen, eine Rettung für viele zusammen zu sein: Denn die Realität gewinne jedes Mal. Die Realität webt sich fortwährend in das Beziehungs- und Bedeutungsnetz der Sprache mit ein und hinterlässt darin ihre wirklichen Spuren.

Mit Tanja Maljartschuk und ihrer Rede tritt ein harter Befund zutage, doch kann man diesen keinesfalls so radikal dem Werkzeug der Sprache irgendwie anlasten oder gar unkritisch zumuten oder hinnehmen. Dass die Sprache auch von "Umbringer [und] [...] Auslöscher" verwendet wird, ist kein Umstand, das der Sprache an sich anzulasten wäre. Die Sprache bleibt an und selbstverständlich für sich unschuldig. Die bloße Aneinanderreihung von Buchstaben, die lediglich uninteressante Zeichen sind, macht keine Schuldigkeit aus. Die Aneinanderreihung der Zeichen kombiniert mit sozialen Kontexten, die den Zeichen die eigentliche Bedeutung erst zusprechen und die durch konventionelle Übereinkünfte aufrechterhalten wird, lässt die Schuldfrage erst am Horizont erscheinen: Menschen lasten der Sprache etwas Ungeheuerliches und Böses an, die Sprache birgt sodann allein nie etwas Ungeheuerliches oder Tödliches.

Doch auf einer Mikroebene würde Literatur vielleicht sehr wohl dazu beitragen, "[d]en Opfern in dunklen Tälern eine Stimme [zu] geben, beim Schreien und beim Schweigen zu[zu]hören, sie stärker [zu] machen, damit die Umbringer, Auslöscher, Verbrecher und Gauner, all jene, die überzeugt sind, mehr Recht zu haben und besser zu sein als die anderen, endlich nicht mehr die Oberhand behalten". Vielleicht gleicht die Rede von Tanja Maljartschuk - trotz ihrer klar pessimistischen Perspektive auf die Gegenwart der Literatur - auch einem eindringlichen Plädoyer, diese Möglichkeit von Literatur gemeinsam auch auf eine Makroebene zu heben. Das wäre ein gewaltiger Kraftakt, aber bereichernd - und zwar für uns alle.

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Tanja Maljartschuk,

"Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf".
€ 12,- / 32 Seiten.
Verlag Johannes Heyn,
Klagenfurt 2023