Inmitten der Krise des arbeitenden Menschen | Birgit Birnbacher

Birgit Birnbacher berührt und fasziniert mit ihrem aufmerksamen diagnostischen Blick und ihrer ruhigen Sprache: Über Arbeit, Familie und das Landleben handelt ihr neuer Roman.

Von Sebastian Grayer, Juni 2023

Mit großem Gefühl spürt Birgit Birnbacher der Frage über das Lebensglück in ihren Tiefen nach: „Wovon wir leben“ heißt und erzählt das Buch. Ihre kühle und nüchterne Sprache, die nah an die Alltagssprache der Menschen heranreicht, wie sie selbst in einem Gespräch mit Günter Kaindlstorfer erklärt hat, wandelt sich bei der Lektüre zu wärmenden Berührungen und nachhallenden Eleganzzügen um. Es kommt einem Kunstwerk gleich, mit einfachem Vokabular und unkomplizierten Sätzen komplexe Konstellationen entstehen zu lassen. In nur wenigen Augenblicken ist man ihm verfallen, fühlt sich wohl und verstanden. Und wird in seine eifrig komponierte Welt gezogen. Dass die Salzburgerin nicht nur mit dem Schreiben auf ein Wohlsein trifft und angenehme Resonanzen schafft, hat sie auch Anfang März bei ihrer Lesung aus „Wovon wir leben“ im Literaturhaus Graz gezeigt: Man hört ihr gerne zu und lässt sich an ihre Hand nehmen.

(c) Sebastian Grayer
(c) Sebastian Grayer

Darin schnürt Birnbacher die Geschichte von Julia Noch, die aufgrund eines Behandlungsfehlers an einer Patientin die Kündigung erhält und dadurch den Job als Krankenschwester in der Landesklinik der Stadt verliert, zurück zu ihren Eltern auf das Land zieht und dort im alten Heimatdorf Hofmark im Innergebirg Zuflucht sucht und findet. Doch der Fund gestaltet sich als eine ernstzunehmende Schwierigkeit: Jene Fabrik, welche die meisten Bewohner des Orts mit Arbeit versorgt, gibt es nicht mehr, ihre Mutter hat die Familie, Vater und Bruder, der seit einer nicht behandelten Gehirnhautentzündung in einem Sanatorium lebt, nach Italien für einen freiheitsstrebenden Neuanfang verlassen und ihr Vater befindet sich in einem schlechten körperlichen Zustand. In Hofmark trifft sie ebenfalls auf einen Mann aus der gleichen Stadt, er heißt Oskar Marin und befindet sich nach einem Herzinfarkt im örtlichen Rehabilitationszentrum in Behandlung untergebracht und kann keiner Beschäftigung nachgehen. Bei einem zufälligen Aufeinandertreffen in der Gaststätte verrät er von seinem großen Glück, das Julia nachdrücklich verstimmt: Für ein Jahr habe er ein bedingungsloses Grundeinkommen gewährt bekommen. Während sich Oskar mit diesem „Freiheitsgeld“ neue Möglichkeitsräume einrichtet, ist es bei Julia gerade eine schmerzlich andere: „Und immer die Ungewissheit. Dass ich nicht weiß, wie es sein wird, ohne Arbeit zu sein.“

Birgit Birnbacher zeichnet ihre rund 200 Seiten lange Erzählung aus Linien, deren Farben aus dem Spektrum der Arbeit, Familie und menschlichen Beziehungen entstammen und überzeugend wie stimmungsvoll mit der Themenlandschaft des Landlebens verbindet. In diesen konzentrischen Kreisen, an deren einzigen gemeinsamen Schnittpunkt sich Julia wiederfindet, spielt sich die gesamte Geschichte ab. Nach Jahren des Aufenthalts in der Stadt wird Julia in ein vertrautes fremdes Sein zurückgeworfen, der in ihr eingeschriebene städtische Alltag verliert deutlich an Kontur. Wir begleiten sie auf diesem Weg: In dieses Zurückgeworfen-Sein gliedern sich ein Wiedersehen mit den eigentlich weit aus dem Bewusstsein geratenen Menschen, das Zusammentreffen mit ihrer alten Freundin Bea, der regelmäßige Besuch des Gasthauses, das gemeinhin als „der“ Treffpunkt am Land gilt, oder etwa auch die notwendige Umsorgung von Vater und Bruder ein.

Das Medium, an dessen Ende jenes Psychogramm als Ergebnis hervortritt, das in sich Mensch und Arbeitslosigkeit vereint, besteht jedoch aus ungleich mehr. Neben dem leisen Abnehmen des Fremdelns im Bekannten, ist es das Übrigbleiben eines Sinns, der nicht von der Arbeit herzurühren scheint, sondern sich im prägnanten Problematisieren dieser entsteht. Welche Erwartungen werden an Frauen gestellt, wie äußern sich raue patriarchale Strukturen in der Lebenswelt und innerhalb der eigenen Familie, ist wirklich die Arbeit jene Instanz, die uns Sinn verspricht oder woraus besteht eigentlich das Lebensglück und was bleibt übrig, wenn die Arbeit wegfällt, sich ein Raum mit einem scheinbaren Nichts auftut?

Am Horizont der Inspiration erscheint die Sozialpsychologin Marie Jahoda, ihre Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“, die sie mit Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel durchführte, gilt bis heute als Klassiker der Sozialforschung. Der Untertitel: „Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit“. Bei der Lektüre erkennt man unschwer Birnbachers soziologischen Blick, mit großem Bedacht die sozialen gegenwärtigen Umstände zu dekonstruieren, Dinge sichtbar zu machen, die doch nicht unsichtbar sind, und trotzdem: dem Sozialen wohnt das Verschleiern inne. Hier setzt sie an: Die Autorin widmet sich konsequent dem delikaten Entschleiern mit einer klaren und unverfälschten Sprachverwendung.

Der Roman interessiert sich nicht für Ungenauigkeiten, er modelliert und vergegenwärtigt aus einem zeitdiagnostischen Fundus heraus, er macht eine unangenehme Situation unmittelbar erlebbar. Im Außen bleibt man stets an einer schon beinahe an Unheimlichkeit grenzenden Nachvollziehbarkeit und einem Grundverständnis haften. Der Text entzieht sich einer Unglaubwürdigkeit. Auch gibt es keine Leerstellen, es ist eine kompromisslose Schlichtheit am Werk: Birnbacher schreibt wenig, sagt aber genau damit viel aus. Es wäre aus Sicht des Autors dieser Zeilen fatal, mit dem Gedanken an die Lektüre heranzugehen, es handle sich um der unplausiblen Komik bedienende Zeilen, wenngleich der überwiegende Teil der Figuren wirkliche Borniertheit charakterisiert, doch überwiegt bei ruhiger Lektüre die bodenständige Ernsthaftigkeit. Diese ruhe Ernsthaftigkeit zeigt sich an starken Sätzen: „Ich weiß nicht, ob wir das jemals gehabt haben, sie und ich, ohne dass wir schwer gewesen wären von zu Hause. Vielleicht ist es wirklich nur dieses Zuhause, das uns so schwer gemacht hat, das Haus und das Dorf und das Drumherum, vielleicht haben wir etwas verwechselt, die Umstände verwechselt mit uns selbst, die Umgebung verwechselt mit den Umständen, und über die Zeit vergessen, dass wir uns auch einfach erheben und gehen hätten können“. Mit jeder Zeile leuchtet die Autorin nicht unbedingt laut das Leben der Menschen aus, mit leisen Stimmen und dennoch gewaltig. Auch in Summe bleibt dieses langsame Ausleuchten ein angenehmes Tun. Damit hält sie an Jahoda fest: Man muss Menschen zuhören, sich ihnen widmen, und das aus einer Unmittelbarkeit heraus.

Die Bachmann-Preis-Trägerin hat gewiss das feine Gespür für unsere Gegenwart, obgleich ihre Fähigkeit umso größer scheint, etwas Bedeutungsschweres nicht schmerzvoll, sondern menschlich näher zu bringen. Denn schmerzhaft ist die Gegenwart ohnehin schon.

----------

Birgit Birnbacher,

"Wovon wir leben".
€ 24,- / 192 Seiten.
Paul Zsolnay Verlag,
Wien 2023