Konstantin putzt mit künstlerischer Tiefe und fanatischer Genauigkeit | Valeria Gordeev
Die in Deutschland geborene Schriftstellerin Valeria Gordeev gewann mit ihrem Text "Er putzt" den mit 25.000 Euro dotierten Bachmannpreis. Ihre Lesung besaß eine bemerkenswerte Eindringlichkeit. Und ihr Text reizt das Alltägliche vollkommen aus.
Von Sebastian Grayer, Oktober 2023
Valeria Gordeev wurde 1986 in Tübingen (Baden-Württemberg) geboren. Russland ist ihr biografisch eingeschrieben: Ihre Eltern wanderten nämlich Ende der 1970er Jahre aus der ehemaligen Sowjetunion aus. Ihre Familie lebt heute in Deutschland, Russland, der Ukraine und den USA. Sie selbst lebt aber in der Bundeshauptstadt Berlin, wo sie Mathematik und Illustration studierte. In Leipzig studierte sie ebenso Literarisches Schreiben. Einen Reiseführer an das "Böhmische Meer" von Ingeborg Bachmann bildete ihre Abschlussarbeit an der Universität der Bildenden Künste Berlin. Zu den 47. Tagen der deutschsprachigen Literatur wurde Gordeev von Insa Wilke eingeladen.
(c) Sebastian Grayer |
„Er putzt“ – der Titel weist zunächst noch auf eine Schlichtheit hin, ehe die ersten Sätze bereits diese voreilig in den Raum geworfene Einschätzung in dem Besitz ergreifenden Lesevorgang rasch auflösen und ins absolute Gegenteil verkehren. Valeria Gordeev greift eine belanglose, zutiefst alltägliche und immer wieder vorkommende Prozedur des Menschen in ihrem Text auf und verdichtet sie auf engstem Raum, treibt sie immer weiter voran und das mit einer solchen Intensität, dass das Alltägliche das alltägliche verliert: Das Putzen hebt die Autorin aus dem Allgemeinen empor und erklärt es zu etwas Besonderem, zu einem künstlerischen und fanatischen Akt eines Neurotikers. Das Putzen ist keine nüchterne Praxis mehr.
Es
ist Freitagnachmittag und der Student Konstantin ist zu Besuch bei seiner
Mutter Nadja und ihrer zehnjährigen Tochter Lada, die ihre Mutter mit ihrem
Vornamen anspricht. Während er sich in der Küche aufhält und geistig ungehalten
vor sich hin monologisiert, sitzt Lada mit einer Schulfreundin ihrer
Gymnasialklasse vor dem Fernseher im Wohnzimmer. Sie sehen sich aufgenommene
Folgen „Emergency Room“ und „Es war einmal das Leben“ an; eigentlich liebt Lada
Kochsendungen, doch sieht ihr großer Bruder Konstantin über Verbote hinweg. Die
„Mutter […] hat freitags Telefondienst und wird nicht vor zwei Uhr in der Nacht
nach Hause kommen, er soll anrufen, wenn etwas ist“. Und so befinden sich die
beiden Kinder in seiner fürsorglichen Verantwortung. Die Fischstäbchen sind ein
wenig knapp bemessen, sollte die Schulfreundin noch bis zum Essen zu Besuch
bleiben. Aber das ist kein Problem, Konstantin würde sich schon etwas einfallen
lassen.
Der Kern des Textes nimmt aber nicht hierbei, sondern bei Konstantins scharf ausgeprägtem Ordnungsbedürfnis seinen unmittelbaren Ausgangspunkt. Ein Bedürfnis, das in der Vergangenheit schon mehrmals zu heftigen Streitereien führte, als er noch bei seiner Mutter und Schwester wohnte. Mit großer Sorgfalt und konzentrierter Ernsthaftigkeit geht Konstantin nämlich in der Küche seiner Mutter dem Putzen nach. Er beginnt mit der Spüle, zerlegt das Abflusssieb, widmet sich dem Abflussrohr, dem Abfluss selbst, um danach zu den kleinen Abflussschlitzen, dem von der Spüle nach unten in den Spülschrank windenden Abflusssiphon überzugehen, ehe Konstantin sich dem gesamten Spülschrank und Wasserhahn widmet. Er erarbeitet die Sauberkeit mit dem Gegenteil einer unordentlichen Plumpheit. Konstantin wendet taktvolle Dezenz an, eine nicht zurückgehende Unrast kommt zum Zug und am Ende entwickelt sich der oberflächlich erscheinende Putzvorgang als feinteilige Orgie.
Das
Putzen gleicht einem Projekt, das Konstantin mit Vehemenz und größter Gewissenhaftigkeit
zu einem Ende bringen möchte, das aber nicht zu Ende zu bringen scheint. Indem
er dem Ziel näher rückt, schiebt sich das Ziel paradoxerweise wie von selbst in
weite Ferne. Das Projekt erhält dadurch seinen Status der unmöglichen
Vollendung. Gordeev lässt den Studenten zusätzlich jegliche seiner Arbeitsschritte
minutiös und peinlich genau benennen und erklären, und auch jene Requisiten –
die er gewissermaßen penibel um sich schart – aus der Wohnung, die er zur
Anwendung heranzieht, stehen eindeutig mit ihren jeweiligen Bezeichnungen fest.
Durch Benennungen schafft Konstantin Klarheit über seine Welt, auch wenn es nur
die Küche oder die Wohnung ist und bleibt. Darin reihen sich nicht-dilettantische
Beschreibungen der schmutzigen Oberflächen, der unangenehmen Engen einer jeden
Küche sowie der unzähligen und notwendigen Schritte gegen jede Form des
Schmutzes und für jede Form der Sauberkeit.
Konstantin
begegnet dem Schmutz als etwas, das einer schweren Zumutung und nicht auszuhaltenden
Spannung nahekommt, zumindest für sein Dasein. Er findet sich in einer
Situation wieder, die er mit einer ihm gewohnten und tief eingeübten Praxis zu
lindern versucht, um die verspürte und körperlich werdende Spannung aufzulösen.
Sauberkeit bedeutet Entlastung.
Doch
klingt auch noch eine andere Ebene durch den Text, gleichwohl nicht sonderlich
laut und sich irgendwie aufdrängend. Es herrscht offenbar Kampf – nicht
ausschließlich gegen Schmutz, Kalk, Staub und Fett: Er schlägt in viele Richtungen
aus und findet Ausdruck in verschiedenen Dimensionen, die Konstantin
unmittelbar oder nur mittelbar betreffen. Er ist einem geistigen Kampf
ausgeliefert, denkt über Mittel zu seiner Zielerreichung und das hinter Schmutz
verborgen Liegende nach. Konstantin stößt mit seinem Ordnungsbedürfnis auf
Gegenwind in Gestalt seiner Mutter, sein ordnungsstiftendes Tun findet nur eine
äußerliche Anerkennung. Weiters besteht Uneinigkeit über die
gesundheitlich-bedenkende Verwendung von Wattestäbchen für die Pflege der Ohren
seiner kleinen Schwester. Während er mit dem Putzen beschäftigt ist, strömen
Wortfetzen, Eindrücke und Töne vom Wohnzimmer her. Die „Emergency Room“-Folge
schildert schwere Katastrophen, es geht um Leben und Tod. Und selbst in den
Blutbahnen des menschlichen Körpers – diesen Blick gewährt den Kindern und
Erwachsenen die bekannte Zeichentrickserie „Es war einmal das Leben“ – gibt es gewalttätige Auseinandersetzungen: Heranrollende Müllfressereinheiten verspeisen
eindringende Bakterien. Überall herrscht also Kampf.
(c) Sebastian Grayer |
Die
Leser:innen erhalten keinen weiterführenden Kontext aus Gordeevs Zeilen
bereitgestellt. Doch das ist keinesfalls nötig, da es sich bekanntlich um eine gesellschaftlich
gesehen breit zugängliche Praxis des Alltags handelt, es lässt sich in jede
Wohnung einordnen und dort konkret in seine Arbeitsschritte beliebig ausformen.
Der Text schafft es, den Blickt auf den Alltag völlig zu verändern und eine
Frage im Raum stehen zu lassen: Ist der Alltag wirklich so alltäglich? Und:
Lassen sich noch andere Alltagspraktiken auf Gordeevsche Art und Weise in den
Blick nehmen?
Valeria Gordeev wurde 1986 in Tübingen (Baden-Württemberg) geboren. Russland ist ihr biografisch eingeschrieben: Ihre Eltern wanderten nämlich Ende der 1970er Jahre aus der ehemaligen Sowjetunion aus. Ihre Familie lebt heute in Deutschland, Russland, der Ukraine und den USA. Sie selbst lebt aber in der Bundeshauptstadt Berlin, wo sie Mathematik und Illustration studierte. In Leipzig studierte sie ebenso Literarisches Schreiben. Einen Reiseführer an das „Böhmische Meer“ von Ingeborg Bachmann bildete ihre Abschlussarbeit an der Universität der Bildenden Künste Berlin. Zu den 47. Tagen der deutschsprachigen Literatur wurde Gordeev von Insa Wilke nach Klagenfurt eingeladen. Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus ihrem geplanten Debütraum, an dem sie bereits fünf Jahre schreibend arbeitet.
Online: „Er putzt“