„Ich schreibe dort, wo ich allein bin“ | Sonja Kettenring

Sonja Kettenring gewann mit ihrem Text "Fliegende Rinde" den 13. Kurzgeschichtenwettbewerb "WortReich" des Kärntner Bildungswerks. Ich traf sie kürzlich zum Gespräch.

Von Sebastian Grayer, November 2023

„Warum ich schreibe?“, wiederholte Max Frisch Pfeife rauchend die Frage und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Weil ich Lust habe, weil ich irgendetwas tun muss, weil es schwer ist, das Leben auszuhalten, ohne sich auszudrücken“. Für Sonja Kettenring ist diese Frage nicht minder schwierig. „Mir fällt da immer Reinhold Messner ein, der einmal gefragt wurde, warum er denn auf einen Berg hochsteigen würde. ‚Weil er halt da ist‘ war die Antwort“. Sie hat also keine andere Wahl, als zu schreiben und hervorzubringen? „Dafür schreibe ich dann doch eher wenig, aber im Endeffekt, ja, schon irgendwie“. Sie mache das eben gerne, und wenn sie es nicht mache, fehle da etwas. Wohlmöglich breitet sich ansonsten ein Gefühl des Unbehagens aus, man fühlt sich irgendwie fremd, wenn man als Autor:in nicht schreiben kann.

(c) Sebastian Grayer
(c) Sebastian Grayer

Unnötigen Ballast beim Schreiben abwerfen

Bei dem Namen Kent Haruf blicken wir beide in unser Regal. Ihr Blick geht nach oben, meiner nach unten. Das Gemeinsame ist schnell gefunden, auch wenn ich sie über Skype im Baden-Württembergischen Kraichsgau in der Nähe von Heidelberg erreiche; wir sehen einander trotzdem. „Ich mag es total, wie er dieses banale Kleinstadtleben beschreibt. Es passiert nicht irgendwas Großartiges. Es ist eine normale Stadt, wie man sie überall auch antreffen könnte. Und die Figuren, ich finde sie großartig beschrieben“. Harufs Romane erzählen Geschichten aus der Kleinstadt Holt, ihnen wohnt etwas zutiefst Alltägliches und Menschliches inne. So auch seiner Sprache, die bei Kettenring in ähnlicher Weise Anwendung findet. „Ich mag es, wenn es eine eher einfache Sprache ist, nicht so viel Schnörkel. Sondern relativ einfach und schlicht“. Kettenring wirft beim Schreiben unnötigen Ballast von den Sätzen ab, spürt dem Nötigen allmählich nach und schließt Überflüssiges konsequent aus.

Über das Tagebuch hinaus

Vage scheint sie sich noch an ihre Schreibanfänge zurückzuerinnern, über das Füllen ihres Tagebuchs, also einer intensiven Technik des Selbst, sei sie um das 20. Lebensjahr herum zum Schreiben in der heutigen Form gekommen, die in der eben geschilderten Weise existiert und funktioniert. „Das ist sehr lange her“. Dann traten kleinere Geschichten hinzu und die Teilnahme an Schreibseminaren und -foren folgte. „Irgendwie wurde es dann mit der Zeit immer mehr“, der Raum für das kreative Schreiben wuchs schon in jungen Jahren vielversprechend bei ihr heran. „Eher später als früher in meinem Fall“, lacht sie.

Wie die witzig-absurde Geschichte entstand

„Fliegende Rinder“ – so heißt und davon erzählt der Text, mit dem Kettenring die Jury überzeugte. Sie bedient sich rund 1.000 Wörtern und entwirft mit ihnen eine witzig-absurde Geschichte. Ihr Text ist entlang den Eindrücken eines Schreibforums entstanden, in dem sie nach wie vor aktiv ist. „Jemand hat das Stichwort ‚Fliegende Kühe‘ oder ‚Fliegende Rinder‘ in den Raum gestellt und dann hat mich das angesprochen“. Nach und nach stieß Kettenring auf sich zusammenfügende Wortschnipsel und es entsprang aus ihnen heraus eine Geschichte, der Schreibprozess setzte sich in Gang. Um den Text einreichen zu können, musste sie ihm allerdings mit Kürzungen begegnen. „Das hat dem Text ganz gutgetan“, als hätte der Text gewissermaßen ein Eigenleben, und dem ist auch so. Ein Moment der Unverfügbarkeit meldet sich zu Wort. „Entstanden ist er ziemlich schnell, aber dann hat er sich verändert, immer mal kürzer, dann kam wieder was hinzu und was anderes weg“. Das reflektierende Bearbeiten ist Teil jeder schöpferischen Tätigkeit.

Wie das mit dem Schreiben ist

Im üblichen Entstehen die in Schrift geronnenen Nachwerke ihres Tuns, wie es die Literatursoziologin Carolin Amlinger formuliert, im ruhigen Alleinsein. „Ich schreibe lieber, wo ich allein bin“, in Cafés zu schreiben sei nämlich nichts für sie. „Höchstens noch, dass ich mich während dem Spaziergang hinsetze“. Spaziergänge verbindet sie wohl mit Thomas Bernhard, das Café als Schreibstube grenzt sie zu ihm ab; doch das bleibt eine Vermutung. Als „Keimzelle“ ihrer Schreibprozesse fungieren Stimmungen, bestimmte Sätze, also „wenn etwas da ist“, an denen sich weitere potenzialträchtige Einfälle anschließen. Sie initiieren und bringen das Schreiben in Gang. „Auch ist es so, dass ich hier eine Weile sitze und mir denke, ‚was könnte ich jetzt schreiben?‘“ Es dauere dann immer mehrere Momente, bis was komme, an sie herantrete sozusagen. Auf diese Weise gelingt eine Offenheit.

Autorin als Rezipientin

Den Akt des Lesens als Rezipientin sieht sie im Gegensatz zu einem informativ- und handlungsgetriebenen Vorgang. Ihr Akt des Lesens materialisiert sich vielmehr im Interesse an den Figuren. „Ich lese hauptsächlich wegen der Figuren. Wenn mir Leute stundenlang irgendwelche Handlungen beschreiben, das interessiert mich nicht so stark“. Wie verhalten sich die Figuren, welche Motive liegen ihrem Verhalten zugrunde und ist das schlüssig, dass sie sich so verhalten? – Durch ihr Lesen nimmt sie Antworten auf diese Fragen in sich auf. „Und was fühle ich dabei? Berührt mich die Geschichte?“, reihen sich ebenso hier ein und ein reiner Lesevorgang rückt damit in weite Ferne.

Arbeit macht Schreibarbeit möglich

Wie so viele Autor:innen auch, führt Kettenring ein Doppelleben, das eine ermöglicht gerade erst das andere. Damit ist das Außerliterarische angesprochen, das notwendig für die Verwirklichung der eigentlichen Schreibarbeit ist. „Ich bin Mama, Autorin und ich trage Post aus“. Ihr Mann sorge für den Großteil des gemeinsamen Lebensunterhalts, ohne ihn wäre das Schreiben keinesfalls möglich. Abgesehen davon brauche es auch die notwendige Zeit, um in die Stimmung des Schreibens zu kommen.

Kärnten ist ihr bestens vertraut

Kärnten ist ihr keineswegs unbekannt, seit mehr als 15 Jahren komme sie nämlich schon für den Urlaub an den Weissensee. „Es ist so schön, wir kommen immer wieder“. Ein kleiner Wermutstropfen sei für sie, dass Kärnten doch am Ende einer großen Strecke liegt. Von der Lesung im Juni nimmt sie vor allem mit, dass es eine tolle Veranstaltung war. „Ich fand es sehr schön, dass wir noch zum Essen zusammensaßen und miteinander ins Gespräch kamen“. So sehr die Schreibtätigkeit von der Zurückgezogenheit lebt, so wichtig sind auch Lesungen. Der Wettbewerb zeigt wie wichtig es ist, dass Autor:innen selbst ihre verfassten Texte vortragen, dass diese ihre große Sensibilität für Gegenwart unter Beweis stellen und dass das geschriebene Wort nach einer Öffentlichkeit verlangt. „Ich komme immer gerne nach Kärnten“.

Die Schwere und das Absurde

Ihr eingereichter Text ist warm geschrieben und mit hellen Tönen ausgekleidet, man stößt sich nicht an unangenehmen oder harten Kanten, sie sind humorvoll bedeckt. „Ich lese durchaus positiv gefärbte Romane, wobei mir eher jene hängen bleiben, die etwas Schweres an sich haben“. Und eigentlich gestaltet sich ihr Schreiben auch so, sie schreibe eher an schwereren Sachen. Doch wendet sie sich ebenso von der ihr so bezeichneten „Novemberstimmung“ ab und bedient sich dem Absurden und dem Surrealen. „Das macht mir auch Spaß“.

Was Kettenring jungen Menschen rät

„Viel lesen, viel schreiben, und noch mehr schreiben und noch mehr lesen“, rät sie jungen Menschen, die Autor:innen werden möchten. Auch in Sozialitäten einzutreten, nennt Kettenring etwa, also Wege zu finden, um sich mit anderen Autor:innen über die persönliche Schreibarbeit auszutauschen. Dadurch verschärft sich der eigene Blick auf den Text, macht andere Zugänge denkbar und das Provisorische und Vorübergehende am sich formenden Text wird zunehmend trocken und härtet sich nach Revisionen und Distanznehmen zu einem lesbaren Schriftstück aus.

2024 erscheint ihr Roman

Die Autorin veröffentlicht im kommenden Jahr einen vielversprechenden Roman. Darin spielt die Natur eine große Rolle, es gehe unter anderem um einen verrufenen See, vor dem jede:r warne, erzählt Kettenring. „Hauptsächlich geht es um die Beziehung von einem Enkel zu seinem Großvater, der bereits verstorben ist. Aufgrund des dem Enkel hinterlassene Testaments hat der Großvater nach wie vor Gewalt über ihn“. Im Roman webt sie die Frage ein, ob man sich entscheiden kann, wer man ist, oder ob man von anderen dazu gemacht wird. Kettenring bewegt sich damit in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld, zwischen Existenzialismus und Strukturalismus. Lesen Sie bald selbst!