Ein zu großes Sein | Kurzgeschichte

Es hatte geregnet. Der Duft des nassen Asphalts drang gemischt mit wärmenden Strahlen der Novembersonne durch das Fenster. [...] „Mach‘ es doch dem zu Ende gehenden Herbst gleich, lass‘ einfach los“.

Von Sebastian Grayer, Dezember 2023

Es hatte geregnet. Der Duft des nassen Asphalts drang gemischt mit wärmenden Strahlen der Novembersonne durch das Fenster. Mit dem Windstoß, der vom taktvollen Geräusch der Fußgänger und fernen Autos der Stadt nach oben begleitet wurde, wich der Vorhang sanft mit regelmäßigen Bewegungen einmal nach vorne, um Sekunden später wieder langsam nach hinten zu sinken. Dabei offenbarte sich das Fenster als ein durchsichtiges Kunstwerk, durchzogen von trockenen und ineinander verirrten Spuren des vorübergegangenen Regens. Vor wenigen Stunden nämlich konnte ich die einzelnen Tropfen noch beobachten, die für das gläserne Kunstwerk verantwortlich waren, bevor die Tränen nach meiner körperlichen Energie griffen und der Schlaf sich grob an mich schmiegte. Wie sie sich ihren Weg kraft ihrer Nässe und Schwerkraft nach unten suchten. Die verzweifelt nach Halt suchenden Tropfen und ihre Ankunft am Fensterbrett konnte ich hören, verspüren wie sie dort ihr Ende fanden. Der Regen der letzten Tage hatte es tatsächlich geschafft, die Straßen von den vielen Blättern zu säubern. Vereinzelt konnte man noch verlorene und von einem fremden Leben bestimmte Blätter erkennen, doch zu welchem Baum sie gehörten, konnte keiner mehr so genau sagen. In der Wohnstraße verwandelte dann der Regen den Gehsteig in einen nassen Spiegel, der, je länger die Tage dauerten, von den langsam zu leuchten beginnenden Straßenlaternen mit regelmäßigen orangen Flecken beleuchtet wurde.

(c) Sebastian Grayer
(c) Sebastian Grayer

Unter dem Druck meiner Decke geschützt öffnete ich meine vom Weinen geröteten Augen und hatte bis eben noch das Gefühl in einer Art Schwebezustand zu sein, zwischen Traum und Wirklichkeit verbleibend, doch mehr Traum und Distanz zum Wahren, der mit zunehmender Dauer meines Erwachens endete und seinen Weg dort wieder fortsetzte, wo ich mit meinen Gedanken vor wenigen Stunden aufhörte. Dieser wechselte in ein intensives, überforderndes und übermächtiges Dasein. Das alles vor mir zeichnete sich in einer unangenehmen Weite und Dunkelheit ab. Orientierungslos und verloren drehte ich mich auf meinen Rücken und blickte nach einer Weile wieder in Richtung meines Fensters des Schlafzimmers. Ich war sichtlich verloren in einer mir vertrauten Umgebung. Allein und zurückgezogen auf ein nacktes und reines Sein. In diesem Zustand verband sich meine Existenz mit einer unerträglichen Härte, einer Realitätshärte, die gewaltsam nach mir Griff und mehr und mehr körperlichen Raum einforderte und diesen auch bekam. Mir war es, als würde sich etwas Fremdes, zu viel Wirkliches vom Fenster her aufdrängen, vor dem ich mich ins Bett flüchtete. Doch diese Art von Flucht hilft mir nicht, wenn es um innere, stille und doch für mich laute Kämpfe geht, die kein Außenstehender wahrnehmen kann.

Ich fand mich in einer auf meine Person konzentrierten Situation wieder. Eine innere Hand sucht verzweifelt nach etwas Greifbarem, um nicht völlig den Halt zu verlieren. Enttäuscht und niedergeschlagen zieht sie sich zurück aus den scheinbar nie enden wollenden Engen meines Inneren. Es ist viel zu eng in mir. Die Medikamente weiten diese Enge oder versuchen es zumindest für ein paar wenige Stunden bis der Schlaf meinen Körper wieder einholt. Mit einem unaufhörlich pochenden Herz, das ohnehin schon aufgrund der verbreiteten Stille in meinem weltlichen Raum unüberhörbar zu sein scheint, habe ich mich allein auseinanderzusetzen, in völliger Einsamkeit, und das schon seit Monaten. Doch auch das Alleinsein ist mir zu viel. Jede Auseinandersetzung beginnt mit der Aufnahme eines Gedankens aus der Vergangenheit, wird aus verschiedenen Perspektiven mehrmals und mit einer Mehrwert abringenden Weise durchdacht und wieder verworfen. In seiner Selbstexistenz baden zu können und sich darin zu wärmen und zu wälzen, aber in einer grauenhaften Abgeschiedenheit gegenüber der Außenwelt, das wollte ich doch immer. Den Hang zu sich selbst völlig und radikal auszuleben, genauer gesagt, ein intensives und wohliges Selbstgespräch zu führen, ein doch als egoistisch zu bezeichnendes Verhältnis zu sich aufzubauen, das war doch das, was ich immer in die Gegenwart zu transformieren imstande sein wollte. Auch jedem noch so in kleinsten Details mehrmals durchdachten Gedanken einen Mehrwert abzugewinnen oder mit geistiger Gewalt abzuringen, ihn nochmals widersprüchlich sanft in sich aufzunehmen und dadurch ein Gefühl zu bekommen, irgendwie von diesen Vorgängen betrunken zu werden und nicht vom Alkohol oder benommen von Medikamenten. Und als Ergebnis eine vollkommen nachvollziehbare und gelungene Selbstreflexion zu erreichen. Dafür war eine völlige Einsamkeit die bedeutendste und wohl auch die einzige Voraussetzung. Ich wusste jedoch nicht, dass das Zurückgeworfensein auf eine bloße Selbstexistenz nicht ohne Probleme bewältigbar ist. Im Gegenteil. Es fällt mir schwer und mein Wunsch nahm eine völlig falsche Richtung ein. Jetzt suche ich immer öfters mein Bett auf und ziehe mich ungewollt von meinen Mitmenschen zurück.

Vor Jahren war ich noch von Menschen umgeben und das war das eigentliche Problem. Menschen, die dem Alltag verfallen waren, grauenhafte Alltagsmenschen, die eine für mich unangenehme Schlichtheit an sich hatten und keinem Hinterfragen nachhingen. Stetiges Nachdenken über die Grenzen des Alltags hinaus war ihnen vollends suspekt, so meine Vermutung. Als hätten sie ihre Muße abgestreift, als häuteten sie sich und tauschten sie gegen Tüchtigkeit ein und verwandelten sich so in Aktivkapseln. Für mich war das unerträglich, vor solchen Menschen in sich selbst hineinzukriechen. Ich verstand nicht, wie es anderen Menschen in meinem Alter es schafften, sich nicht vom Alltag überfordern zu lassen, den Blick auf das Wesentliche nicht zu verlieren und am Ende die Freude am Leben aufrechtzuerhalten.

Verweint und von einem überwältigenden Trübsinn zerschmettert, beginnen die Tage, meine letzten Tage. Die Tränen überkommen mich immer öfters unkontrolliert, auch tagsüber. Immer mehr verloren und verirrt, orientierungslos in einer Selbstpraxis gefangen, so fühlt es sich an. Was ich mir am Anfang so sehr wünschte, scheiterte vollends. Ich wurde in das Leben geworfen, ungewollt. Unerträgliche Gefühlswelten überkommen mich. Wie groß die Welt für eine Ameise wohl sein würde, dachte ich. Einfach losmarschieren, auf sich alleingestellt. Doch den stillen Raum durchbrach ein lautes Donnern. Es fing wieder zu regnen an.

Es war eine jener Nächte, die ich mit Nachdenken verbrachte und mich ergriff ein Drang nach Abwesenheit meines Selbst. Ich starrte in die Dunkelheit und die Tränen flossen. Ich vergleiche es mit Ebbe und Flut, dem Kommen und Gehen des Meeres. Doch kommt dieses Gefühl mit viel größerer Kraft oder vielmehr Wucht, als es am Ende wieder verschwindet. Immer wiederkehrend. Unerträgliche Schmerzgefühle überkommen mich dann. Noch vor wenigen Minuten war der Mond am Nachthimmel zu sehen, der nun vom Nebel verdeckt wurde. Er schien durch das Fenster direkt auf mein Bett. Auf der Kante sitzend blickte ich durch dieses, hinter dessen schon die Kälte des nahenden Winters zurückgehalten wurde. In mir eine Stimme, die in den letzten Wochen und Stunden immer lauter, härter, mitreißender wurde. Nun ist sie nicht mehr zu überhören, wie ein Tinitus übertönt sie mein Nachdenken und ich versuche mit beiden Händen verzweifelt die Ohren zu bedecken: „Mach‘ es doch dem zu Ende gehenden Herbst gleich, lass‘ einfach los“.