Satirische Zerlegung menschlicher Abgründe | Julia Jost
Die Landschaft ist schön, aber die Menschen sind schlimm. Der Debütroman von Julia Jost wirft das Lachen in den Hals – und es bleibt dort stecken. Aber man erstickt nicht.
Von Sebastian Grayer, Juni 2024
Man fühlt sich an Thomas Bernhard und Josef Winkler erinnert. Das scheint irgendwie plausibel zu sein. Denn wovon in der Landeshymne groß die Rede ist, trifft hier bei all der Liebe, die Kärntner:innen für ihre Heimat immer aufzubringen meinen, wirklich nicht zu, es ist weitestgehend getilgt. Weder Glanz und Herrlichkeit noch Wärme und sonstige Lieblichkeiten. Stattdessen katholische Heuchelei, patriarchalische Willkür, körperliche wie psychische Gewalt und ausufernder Sexismus. Hier und da mischen sich nationalsozialistisch-rechtspopulistische Gesinnungen dazu, die immer schon unter der Oberfläche da gewesen sind. Wer das alles zutage fördert? Eine elfjährige Ich-Erzählerin, die in ihrem „Gedankennotizbuch“ – wie sie selbst sagt – nachschlägt, um über jene Menschen zu erzählen, die nach und nach in ihr Blickfeld treten. Es sind harte wenngleich auch glaubwürdige Lebensrealitäten der 1980er und frühen 1990er Jahre in Kärnten, die Julia Jost in ihrem Debütroman „Wo der spitzteste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ zeichnet und durch Kinderaugen schildert – und das unterlegt sie auch noch mit einem schrecklich-boshaften Spaß, der mitunter in eine überbordende Art übergeht.
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Es ist Juni 1994. Während immer mehr Nachbarsleute am Gasthof Gratschbacher Hof eintreffen, um beim Umzug der fünfköpfigen Familie nach Klosterberg mitanzupacken und die über die Jahre angesammelten Habseligkeiten in die bereitstehenden Lastwägen zu verstauen, sitzt die Ich-Erzählerin unter einem solchen und beobachtet die Gegend um sich herum. Mit jedem neu ankommenden Nachbarn erinnert sie sich an ganz persönliche Geschichten, die im Kern an menschliche Abgründe blicken lassen.
Sogar Bürgermeister Gernot Pfandl kommt – ein ehemals schlagender Burschenschafter, NSDAP-Sympathisant und engagierter Feuerwehrmann. Einst rettete er Franz Ruck, ein gerade erst ins Dorf zugezogenes Kind, aus einem Brunnen, zwar tot, aber der „Meine-Ehre-heißt-Treue“-Dolch war wenigstens wieder im Trockenen – es steckte im Bauch des Kindes. Wie es eben am Land so ist, kommen beim Reden die Menschen zusammen, am leichtesten geht das wohl am Stammtisch. Der Bürgermeister vermittelte Carl König, dem Vater der Ich-Erzählerin, einst ein Millionengeschäft: Den Verkauf von Lastwägen nach Serbien. Später fand man die Wägen ausgebrannt am Balkan, sie lieferten Leichenfracht aus. Seine Frau, Margarethe König, freut sich über das Geld – es verhilft der Familie zu einem bürgerlichen Leben, und so fließen große Summen in Materielles und in den Gasthof, den ihre Eltern vor Jahrzehnten gebaut haben. Heute ist es das Ziel deutscher Sommerfrischler. Selbst der Gemeindepfarrer Don Marco erscheint. Er ist einer, der die Beichte gleich an den Stammtischen des Dorfes abnimmt und das Weihwasser aus dem örtlichen Bach nimmt.
Auf Einladung von Klaus Kastberger las Julia Jost 2019 einen Auszug aus ihrem Debütroman bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt am Wörthersee und erhielt dafür den KELAG-Preis. Schon damals wuchs die Vermutung heran, dass der gesamte Roman einem in Zukunft so einiges abverlangen wird. Zum einen sind es die Bosheiten und argen Zuspitzungen, die in alle denkbaren Richtungen reichen. Die Autorin kombiniert Ernst mit einer wuchtigen Satire. Somit bröckeln die Ernsthaftigkeiten nur so dahin, sie verlieren im Fortgang der Geschichte langsam ihre Substanz. Zum anderen ist es gerade dieser bissige Witz, der Jost als ein besonderes Sezier-Instrument für die Geschichten im Dorf dient und das raue politische Klima, den langsam aufkommenden Rechtspopulismus und die braungefärbte Gesinnung der Menschen vor dem Karawanken-Gebirge entlarvt. Diese Entlarvung wiegt umso schwerer, als die Ich-Erzählerin noch zu jung ist, um die Geschichten der Dorfbewohner als ein großes Ganzes und im Einzelnen überhaupt verstehen zu können – sie schildert lediglich was sie sieht und weiß. Dem Kind kann daher kein Vorwurf gemacht werden.
Um unter den bissigen Bosheiten und brutalen Momenten nicht zerdrückt zu werden, existiert die Liebe zu Luca, der Tochter des Gastarbeiters Emir, der am Gasthof Gratschbacher Hof lebt. Diese hält die Erzählerin aufrecht, beschert ihr Augenblicke voller Glück und die zärtlich-kindliche Liebe zu Luca vermag es, die Wirklichkeit besser zu machen als sie im Grunde ist und die Fähigkeit zu stärken, unverletzlich gegenüber Brutalitäten zu bleiben. Es ist das große und wunderbare Gegengewicht im Roman, die im Gegensatz zur kalten Lebenswelt steht.
Am Ende bleibt die vage Ahnung übrig, wie es vermutlich sein könnte, in Kärnten der 1980er und frühen 1990er Jahre aufgewachsen zu sein. Und wohl auch ein beklemmender Eindruck.
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Julia Jost,