Poetik des Menschen: Wenn Graz zu einem Menschen-Text wird | Dževad Karahasan

Als ich dann durch den Augarten spaziere, kommt mir beim Gehen der Gedanke, dass Dževad Karahasan es vielleicht tatsächlich wie Handke meinte, dass „jeder Augenblick des Lebens mit jedem anderen“ nämlich zusammengehe. Ob die Langsamkeit dabei nicht einfach übersetzt Bedachtsamkeit heißt?

Von Sebastian Grayer, Jänner 2025

Im Text "Auschlössl" von Dževad Karahasan, der im Erzählband "Graz. Mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern an besondere Orte der Stadt" von Klaus Kastberger im Jahr 2018 herausgegeben wurde, bekundet der 1953 im ehemaligen Jugoslawien geborene und 2023 in Graz verstorbene Autor seine Sinn abwerfende Beziehung zur steirischen Landeshauptstadt, indem er nahezu plädoyerhaft Graz im Wesen seiner potenziellen und schließlich latenten Zeichenhaftigkeit erfassend studiert.

(c) APA / DPA / Frank Rumpenhorst
(c) APA / DPA / Frank Rumpenhorst

Karahasan nimmt zu Beginn seines Textes bei einer doch eigenartig anmutenden Feststellung Anlauf – dass er die Stadt nämlich nicht als eine wie auch immer tatsächlich übersetzte Verwirklichung der soziologischen Kategorie „Stadt“ begreife, sie also gerade nicht in klar abgrenzenden Begriffen zu denken imstande sei. Er verstehe Städte vielmehr in ihren Ganzheiten, die Stadt sei für ihn ein reichhaltiger Roman, der zum Akt des immerwährenden Lesens bestimmt sei und so selbst zum Erlebnisakt werde. Dabei komme es auf den Erkenntnisschritt an, die Stadt als solches im Verhältnis mit der Anthropologie des Menschen zu sehen: Die Stadt wie auch der Roman seien im Kern uneingeschränkt miteinander in Verhältnis zu setzen, legen doch beide Formen vom menschlichen Bemühen Zeugnis ab, die Welt nicht bloß welten zu lassen, sondern sie darüber hinaus in gestaltend-hervorbringender Weise zu begegnen, aus der Welt mehr zu machen als sie in weltender Existenz ist. Diese Menschen-Methode setze „Einzelteile zu einer geordneten Sinnkette“ zusammen, wobei durch das Mittel des Zusammenfügens diese Einzelteile mit einem Sinnüberschuss versehen werden. Auf diesem Weg würden die einzelnen Bestandteile zu etwas „mehr [G]eworden[en]“ umgestaltet werden. Durch ihr Einfassen in das Gefüge würden sie zu einem Mehr – als sie zuvor noch sind – erhoben „wie es nur in einer glücklich hergestellten Ganzheit“ geschehe, meint Karahasan. Und so wird alles in der Stadt außer-gewöhnlich, bemerkens-wert und vor allem zu einem ganzheitlichen anlass-gebenden Ensemble.

Ich selbst attestiere Dževad Karahasan mit seinem Text Auschlössl den auf den ersten Blick gelungenen – und wohl als idealtypisch geltenden – poetologischen Versuch unternommen zu haben, die Landeshauptstadt Graz als einen ganzheitlichen Menschen-Text zu entwerfen und insbesondere Graz als einen solchen überhaupt erst zu erkennen, in dem seine Einzelbestandteile im sinn-abwerfenden Verband zum Besonderen übersetzt werden. Im Karahasan’schen Verständnis scheint die Stadt also mehr als die Summe ihrer Bestandteile zu sein, die zu dem bereits erwähnten „Sinnüberschuss“ führen. Dass alles ein großer Text sei, sehe ich im Karahasan’schen insofern mit Bedacht verwirklicht, als die Einzelteile im Zusammenschluss zu dem Erzählen von „schöne[n] Geschichte[n]“ Anstoß geben: Indem alles mit allem verwoben ist, geht mit der Erfassung der Einzelbestandteile der „Sinnüberschuss“ des Ganzen einher und die Einzelteile sind konsequent mit Bedeutung aufgeladen – man kann Graz unter diesen Umständen nicht anders als über seine Bestandteile wahrnehmen, ohne gleichzeitig über mäandernde Bewegungen zur „glücklich hergestellten Ganzheit“ vorzustoßen. Auf diese Weise mutet nichts selbstreferenziell zu bestehen an oder gar aufgrund eines Selbstzwecks in der Stadt zu existieren: Das „Durcheinander“ der Stadt-Zeichen – und somit Menschen-Zeichen – hat daher durcheinander zu sein, um jedem Bestandteil ein Bedeutungspotenzial zu versehen, wovon Autor:innen wie Dževad Karahasan umschreibend erzählen können.

Doch Karahasan verschweigt aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang die Voraussetzungen jener Menschen-Befähigung, sich jenseits der üblichen und „auswendig gelernt[en]“ Wahrnehmungsweisen wahrhaftigen Momente des Vollkommen-Menschlichen aufdeckenden Kategorien der Wahrnehmung zu bedienen. Ich glaube es sind die Grundbedingungen in der Praxis des gleichzeitig Gehenden und Schauenden, also dem Gehend-Schauenden, als ein intellektuelles Aufbegehren im Verhältnis der Übereinstimmung von Ich und Welt zu suchen: Erst durch das Auseinanderfallen dieser Größen, die wohl einer Entfremdung gleichkommt, „befähigt zu sehen anstatt [bloß] wiederzuerkennen“. Ein solches Sehen erwirkt sodann die An- und Be-Rührung des Menschlichen im Menschen, das sozusagen „dem Gewohnten das Gewand des Exotischen“ zurückgibt, um durch bedacht-mäandernde Bewegungen zu Ganzheiten (oder menschlich-profanen Transzendenten, dem Bedürfnis des modernen Menschen?) gelangen zu können: Wer so schaut, dem zeigt sich die Welt, wie sie tatsächlich ist.

Diese Erfahrung scheint Dževad Karahasan am Beispiel des Auschlössl am Grazer Augarten im Bezirk Jakomini selbst gemacht zu haben. Damit – die Menschen-Erfahrung und damit zweifellos auch das Menschen-Glück zu einer Formfrage zu erklären – ist er keinesfalls allein. Ich denke hier etwa an Peter Handkes Erzählung Die Stunde der wahren Empfindung (1975), womit Handke das „teilnehmende Sehen“ zur Methode macht, wodurch wieder „Momente des glückhaften Einklangs mit der Welt“ emphatisch-erfahrbar werden. Soweit ich es sehe, versucht ebenfalls Karahasan ein gewisses „Heil“ in den Stadt-Dingen hineinzulesen, sie nicht einzig und allein Dinge sein zu lassen, ihnen sich selbst zu überlassen, da sie ja nur im sinn-stiftenden Verband existierend wirken. In dieser Hinsicht verstehe ich Karahasan wahrgenommene architektonische Anordnung des Cafés Auschlössl in be-rührender Nähe zum Kindermuseum und dem Museum der Wahrnehmung. Indem der Autor sich dieser Anordnung nicht mit anschauender, sondern sehender Blick-Einstellung nähert, verwirft er mit dieser Betrachtung gleichzeitig das lediglich Vorhandene und setzt an dessen Stelle das Maß des Menschen, welches im Harmonie-Bedürfnis besteht. Soweit ich diesen karahasanschen Versuch beurteilen kann, bringt er das Übersehene innerhalb der Stadtgrenzen von Graz zur Geltung und macht aus diesem entdeckten Übersehenen die zentralen Orte des Menschen und der (Lebens-)Welt. Als Rest bleibt das Andere, das Menschliche übrig.

Man kann es nicht verleugnen, dass eine derartige Welt-Sicht notwendigerweise das „innere, platonische Wesen der Stadt Graz“ offenbart. Alles ist mit Einverständnis der Welt von und für den Menschen gemacht. Doch die Schwierigkeit liegt gerade in diesem verlorengegangen „Sehen im gesteigerten Sinn“. Ein solches Sehen vermag stattdessen das Wahrgenommene – oder: das Wahre, Wirkliche, das sich hinter dem Alltäglichen durch das Gewohnte im Verborgenen bleibt – „wahrhaftig“ zu erfahren, das am Ende zum Menschen-Heil wird, um mittels dessen zumindest für Momente des Atmens den Welt-Schmerz – bestenfalls – ein wenig zu lindern.

Ein solcher Zugang, sich (Lebens-)Welten anzueignen, die Einzelbestandteile ihrer „syntaktische[n] Kette[n]“ zu entnehmen, ein anderes wieder zu holen, den davor entnommenen Teil wiederum zurückzustellen in den großen Stadt-Roman und diese in der Zeit zu lesen, um über die Kleinteiligkeit der Provinzstadt schließlich zu (transzendenten) Ganzheiten zu kommen – darauf kommt es wohl Karahasan in seinem Text Auschlössl an. Diese Ganzheiten abseits vom gehenden Be-Sehen – also das wirkliche Sehen – auch noch in Sprache zu archivieren, hat bei Karahasan menschlich-universellen Charakter. Die Stadt Graz bringt sich als Menschen-Stadt in Stellung, über die Menschen sich auf den Weg zu Vollkommenheiten machen können. Die so zum Menschen-Text werdende Stadt teilt sich über ihre Einzelbestandeile mit, dass es eben noch das Andere existiert: In der Aneinanderreihung von Wenigem liegt das Mehr, welches an den Mut appelliert.

Als ich dann durch den Augarten spaziere, kommt mir beim Gehen der Gedanke, dass Dževad Karahasan es vielleicht tatsächlich wie Handke meinte, dass „jeder Augenblick des Lebens mit jedem anderen“ nämlich zusammengehe. Ob die Langsamkeit dabei nicht einfach übersetzt Bedachtsamkeit heißt? Vielleicht präpariert es Karahasan an der Stadt Graz (hier im Besonderen am Beispiel des Cafés Auschlössl) heraus? Das wäre doch wunderbar.

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Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung "Graz. Hauptstadt der Literatur" bei Univ.-Prof. Klaus Kastberger am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung (Karl-Franzens-Universität Graz).